Melike Kara arbeitet in ihrer künstlerischen Praxis mit Malerei und Installation, für die sie Symbole, Erzählungen und Handwerkstechniken der kurdisch-alevitischen Kultur aufgreift. Geprägt von ihrer eigenen Familiengeschichte, bezieht sich Kara in „landing softly“ auf die Weitergabe von kulturellen Traditionen. Mit ihren Werken fragt sie nach der Bedeutung von Erinnerungen für unser Dasein und wie sich die Vergangenheit in der Gegenwart fortschreibt.
Die bewegte und von Migrationsbewegungen geprägte Geschichte der Kurd:innen, wird überwiegend mündlich überliefert, zeigt sich aber auch in der Weitergabe kultureller Traditionen und in der Bewahrung ritueller Stätten. Aufgrund der schwierigen staatenlosen Stellung in den von der ethnischen Gruppierung bewohnten Gebieten in der Türkei, in Syrien, im Iran und Irak, fehlt es bis heute an institutionellen Archiven und Erinnerungssorten. Ergänzend zu der oralen Überlieferungskultur schafft Kara einen visuellen Zugang zu Sitten und Bräuchen, die teilweise bereits im Verschwinden begriffen sind. Sie nimmt mit ihrer künstlerischen Praxis den Platz einer Chronistin ein, die mit ihrem subjektiven Blick dem kulturellen Erben ihrer Ahnen eine neue Gestalt verleiht.
Eine der reichsten und vielfältigsten Traditionen, in der sich die wechselvolle Geschichte der Kurd:innen ohne Gleichen widerspiegelt, ist die Herstellung von Teppichen. Die Weber:innen adaptieren bekannte Muster, kombinieren sie neu oder verändern sie entsprechend ihrer georgraphischen Nähe zu anderen Stämmen, ihres persönlichen ästhetischen Empfindens oder der materiellen Gegebenheiten. Dieser fließende und fortwährende Gestaltungsprozess bringt eine große Vielfalt von Motiven hervor, die ein einzigartiges materielles Erbe der kurdischen Geschichte bilden. Es ist die Freiheit der Weiterentwicklung, die auch Kara für sich beansprucht, wenn sie die geometrischen und ornamentalen Muster kurdischer Teppichmotive aufgreift und in ihren Malereien und Installationen einfließen lässt.
Kara hat einen unverkennbaren Malstil entwickelt, bei dem sie Ölstifte verwendet und mit der dadurch sichtbaren Linienführung arbeitet. Sie konzentriert sich stets auf wenige Farben pro Bild, eine Limitierung, die die Flächigkeit ihrer Malereien unterstreicht. Für „Khorjan (afshar)“ (2022) grundiert sie die Leinwand in Silber und fügt Rottöne sowie Schattierungen von Grau und Weiß hinzu. Mit schneller Hand aufgetragene Linien bündeln sich und bilden die zunächst abstrakt erscheinenden Muster. Trotz ihres referentiellen Ursprungs – die Titel der Malereien verweisen auf die Regionen, aus denen die zugrundeliegenden Teppichornamente stammen – bleiben die entstehenden Strukturen vieldeutig und öffnen einen großen Interpretationsraum.
Kara unterwandert in ihrer künstlerischen Praxis leichtfüßig Gattungsgrenzen und Klassifizierungen. In ihrer Ausstellung verbindet sie die einzelnen Werke zu einer den Raum einnehmenden Installation und fügt sowohl Aspekte der kurdischen Traditionen als auch autobiografische Elemente in ihrer künstlerischen Farb- und Formensprache mit ein. Wie um die Autorität ihrer Malereien zu brechen, kombinierte Kara ihre Bilder in der Vergangenheit bereits mit fotografischen Collagen als Hintergrund, mit gehäkelten Rahmen oder wie nun in der Neuen Galerie Gladbeck mit in Farbe getränkten Stoffbahnen. Kara erweitert ihre Malerei aus der Begrenzung des Bildrahmens in den Raum und kontextualisiert sie mit einer kurdischen Kulturgeschichte.
Die Installationen von Kara wecken häufig den Eindruck einer rituellen Stätte, mit der die Künstlerin in die institutionellen Räume der Kunst interveniert. In der Ausstellung „landing softly“ bespielt Kara den Boden der Neuen Galerie und wischt mit Pigmenten eingefärbten Zucker zu Symbolen und Fragmenten, die ein ebenfalls auf den Teppichornamenten basierendes Muster ergeben. Indem sie diese rituell anmutende Ebene hinzuzieht, entwickelt Kara einen persönlichen und emotionalen Zugang zu der kurdischen Geschichte. Kara schafft dabei einzigartige Räume, die Ausstellung und Erinnerungsort zugleich sind und auf eindrückliche Art und Weise dazu einladen, den Fragmenten von Traditionen nachzuspüren.
Text: Tomke Braun